Der Herbstzauber

Der Herbstzauber


Es war ein kühler, aber klarer Herbstmorgen. Kian, ein kleiner Junge mit wachen Augen und dicken, roten Wangen, stand neben seinem großen Bruder Raik und blickte auf den Wald, der sich vor ihnen erstreckte. Heute war ein besonderer Tag, denn ihre Eltern hatten ihnen versprochen, einen langen Spaziergang durch den Wald zu machen, um den Herbst in seiner ganzen Pracht zu erleben. Kian war aufgeregt. Er liebte es, die bunten Blätter zu sehen und vielleicht sogar ein Eichhörnchen zu entdecken.

„Bist du bereit, kleiner Bruder?“, fragte Raik und lächelte ihn an. Raik war schon zehn, viel größer und stärker als Kian, aber er passte immer gut auf ihn auf.

Kian nickte eifrig. „Ja, ich bin bereit! Gucken wir nach Tieren?“

„Auf jeden Fall!“, sagte Raik. „Aber wir müssen ganz leise sein, sonst verjagen wir sie.“

Zusammen mit ihren Eltern gingen sie in den Wald hinein. Der Waldboden war mit einer dicken Schicht bunter Blätter bedeckt, die bei jedem Schritt raschelten. Kian liebte dieses Geräusch. Es klang wie ein kleines Geheimnis, das der Wald ihnen zuflüsterte.

„Schau mal, Kian“, sagte Raik und zeigte auf einen Baum, dessen Blätter golden in der Morgensonne leuchteten. „Das ist der Herbstzauber. Die Blätter verändern ihre Farben, bevor sie herunterfallen.“

Kian öffnete die Augen ganz weit. „Wow! Rot, Gelb und Orange! Es sieht aus wie ein Regenbogen im Wald!“

„Ja, das ist das Schöne am Herbst“, sagte ihre Mutter. „Alles wird bunt, bevor es still und ruhig wird.“

Während sie weitergingen, sah Kian immer wieder nach oben in die Bäume. Er hoffte, vielleicht ein Eichhörnchen oder einen Vogel zu sehen. „Glaubst du, wir sehen ein Eichhörnchen, Raik?“, fragte er.

„Bestimmt“, sagte Raik. „Du musst nur gut aufpassen. Die sind sehr schnell.“

Plötzlich raschelte es in einem Baum über ihnen. Kian hielt den Atem an und zeigte mit großen Augen nach oben. „Da!“, flüsterte er aufgeregt. „Da ist eins!“

Tatsächlich! Ein kleines Eichhörnchen huschte flink von Ast zu Ast. Es hielt eine Nuss in den Pfoten und schaute neugierig zu Kian und seiner Familie hinunter.

„Es sammelt Vorräte für den Winter“, erklärte der Vater. „Die Eichhörnchen verstecken Nüsse und Eicheln, damit sie im Winter etwas zu essen haben.“

Kian kicherte. „Ich wette, es hat schon ganz viele Nüsse versteckt!“

„Manchmal vergessen sie sogar, wo sie die Nüsse vergraben haben“, sagte Raik und grinste. „Aber das ist gut, denn dann wachsen neue Bäume.“

„Wow!“, staunte Kian. „Das heißt, die Eichhörnchen pflanzen neue Bäume, ohne es zu merken?“

„Genau!“, sagte die Mutter und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Die Natur hat ihre ganz eigenen Wege.“

Der Weg führte sie tiefer in den Wald. Die Luft roch nach feuchtem Moos und Erde, und ab und zu wehte ein leichter Wind, der die bunten Blätter von den Bäumen tanzen ließ. Kian versuchte, ein Blatt zu fangen, das sanft zu Boden segelte. „Guck mal, Raik! Ich hab eins!“, rief er stolz und zeigte seinem Bruder ein wunderschön rot gefärbtes Ahornblatt.

„Das ist schön“, sagte Raik. „Du könntest es trocknen und mit nach Hause nehmen. Dann hast du eine Erinnerung an unseren Herbstspaziergang.“

Kian strahlte und steckte das Blatt vorsichtig in seine Jackentasche. Während sie weitergingen, entdeckten sie noch mehr kleine Wunder des Waldes. Sie sahen Pilze, die sich wie kleine Hüte aus dem Boden schoben, und Raik zeigte Kian, wie man die verschiedenen Baumarten an ihren Blättern erkennen konnte.

„Das hier ist eine Eiche“, sagte Raik und hob ein braunes, gezacktes Blatt auf. „Und das da drüben ist ein Ahorn. Die haben diese großen, glatten Blätter.“

Kian versuchte, sich alles zu merken, aber es gab so viele neue Dinge zu sehen, dass ihm der Kopf schwirrte.

Plötzlich blieb Kian stehen. „Raik, hörst du das?“, flüsterte er.

Raik lauschte. Da war ein leises Knistern und Knacken. Sie sahen sich um, und da – zwischen den Bäumen – entdeckten sie einen kleinen Rehkopf, der neugierig zu ihnen herüberschaute. Es war so still, dass sie kaum wagten, sich zu bewegen.

„Ein Reh!“, flüsterte Kian aufgeregt.

Das Reh stand eine Weile ganz still, schaute die beiden Brüder an, als ob es sie begrüßen wollte, und verschwand dann wieder im dichten Wald.

„Das war unglaublich“, flüsterte Raik, als das Reh weg war.

„Das war der Herbstzauber“, sagte Kian glücklich. „Der Wald ist voller Magie.“

Am Ende des Spaziergangs, als sie wieder am Waldrand ankamen, war Kian müde, aber glücklich. Er hielt das rote Ahornblatt in der Hand und lächelte. „Das war der schönste Herbstspaziergang, den wir je gemacht haben.“

Raik legte den Arm um seine Schultern und nickte. „Und wer weiß, vielleicht entdecken wir beim nächsten Mal noch mehr vom Herbstzauber.“